In welcher Verfassung ist der Staat?

Jürgen Müller
22 min readDec 21, 2020

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Heute ist mal wieder Zeit, etwas zu schreiben. Über Corona. Vermutlich eine saudumme Idee. Ich sollte lieber ein Foto von meinem Essen oder ein Eichkatzerl posten. Sowas geht immer. Corona ist ein Minenfeld, eine vergiftete Diskussion. Ach papperlapapp Diskussion: es gibt kaum eine Diskussion, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir mal ein Verständnis von so etwas in einer liberalen Demokratie hatten.

Es gibt fast nur noch zwei Lager, die sich gegenseitig beschimpfen und attackieren. Auf der einen Seite die sogenannten Covidioten oder Coronaleugner, auf der anderen Seite diejenigen, die alle anderen so bezeichnen, egal ob es wirklich Leugner der Pandemie und Rechtsradikale sind oder einfach ganz normale Menschen, die Angst um ihre Existenz haben, die unsinnige Grundrechtseingriffe nicht einfach hinnehmen oder den nichtssagenden Informations- und Zahlenwust der Medien in Frage stellen. Diese Gruppe möchte ich Coronaradikale nennen.

Meine Corona-Geschichte muss ich einleiten, wie das guter Brauch ist, wenn man Coronamaßnahmen kritisiert, mit einem gewaltigen disclaimer, der gleichwohl nicht vor was auch immer schützen wird. Mir wurscht.

Ich bin Vater unter anderem einer Risikogruppe. Wir haben harte Jahre hinter uns, deren Auslöser die ach so harmlose Influenza und ein RSV-Virus war. Mehrere Lungenentzündungen, zahlreiche Krankenhausaufenthalte usw. Vielleicht nehme ich deshalb auch die Coronamaßnahmen recht gelassen. Ich kenne das alles ja seit Jahren: wechselnde Betreuung der Kinder, nachts ins Büro die Arbeit und das Ehrenamt erledigen, Urlaub abbrechen, Urlaub ganz streichen, flexibel sein.

Als Corona ausbrach hatten wir gerade mal eine überschaubare Zeit hinter uns, in der wir gut durchgekommen waren. Wir waren heilfroh nach zwei Jahren und den letzten Krankenhausaufenthalten im Oktober 2019 halbwegs heil über den Winter gekommen zu sein. Dann kam Corona und die anfängliche Panik, dass es uns richtig an den Kragen gehen könnte.

Bereits weit vor den ersten Maßnahmen haben wir die Kinder aus dem Kindergarten genommen, uns zurückgezogen, ich habe das Büro komplett umgestellt, auf Homeoffice umgeschaltet wo erwünscht, sonst Einzelbüros ermöglicht etc. Ich war verärgert über Leute, die es nicht geschafft haben, sich wenigstens ein bisschen zusammenzureißen, bis man mehr wusste. Und das waren keine Coronaleugner, sondern die typisch deutschen Hedonisten. Ich bin bereits im März mit Maske rumgelaufen und musste mich auslachen lassen. Ein Blick nach Asien war für mich aber deutlich: Das muss ein extrem wirksames Mittel sein. Den Widerstand gegen die Masken konnte und kann ich nicht nachvollziehen (bis auf Kinder s.u.). Ich nutze seit Beginn die CoronawarnApp (bislang ohne Kontakte, was kein Wunder ist mangels Kontakten) und führe gar ein Kontakttagebuch (was ziemlich albern ist, wenn man da kaum was reinschreiben kann).

Vor dem Hintergrund dürfte deutlich sein, dass ich kein Coronaleugner bin. Nicht einmal ein Influenzaverharmloser (mich selbst hat Influenza im Übrigen selbst 2018 über Wochen niedergestreckt). Ich bin aber auch kein Coronaradikaler der anderen Seite. Im Gegenteil. Ich würde mich daher als recht rational bezeichnen. Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Im Leben sind es zumeist die Grautöne — die uns als Gesamtgesellschaft jedoch abhanden gekommen zu sein scheinen.

Es scheint vor dem gesellschaftlichen Hintergrund aber so, als sei ich nicht normal. Eine Woche hat mich nun beschäftigt, was mir jemand in einer Diskussion entgegnet hat:

Er fände es spannend, wenn jemand diskursiv gegen den Mainstream schwimmt.

Es gärt schon lange in mir, aber das war letztendlich der Auslöser dieses Textes. Denn ich war fassungslos. Im Wesentlichen bezieht sich meine Kritik an den Corona-Maßnahmen an der Unfähigkeit der Politik (und wohl des politischen Systems), auf die großen Krisen unserer Zeit adäquat zu reagieren, an der politischen und medialen Kommunikation in der Krise. Vor allem aber lege ich wert auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, die Achtung der Grundrechte und der Gewaltenteilung. Wenn ich damit gegen den Mainstream schwimme, haben wir als Gesellschaft ein Problem. Und zwar ein gewaltiges.

1. Politik

Der Sommer wurde verschlafen. Das ist keine Neuigkeit. Das hat jeder mitbekommen. Als Klimaaktivist bin ich darüber gar nicht so fassungslos wie es angemessen wäre. Denn es ist das gleiche Prinzip, das ich aus der Nichthandlung in der Klimakrise kenne. Es wird solange nichts getan, bis etwas spürbar wird. Das ist in der Klimakrise bislang nicht der Fall. Dort wartet man noch auf die technische Lösung, die wirksame Politik erspart. In der Coronakrise ist diese Lösung der Impfstoff. Der wurde in Rekordzeit entwickelt, weil man einen unglaublichen Fokus drauf gelegt und Unmengen von Geld auf die Hersteller geworfen hat. Allerdings kam der so spät, dass die Politik dann aufgrund steigender Inzidenzen und Todesfälle handeln musste. Und wie sie gehandelt hat, das hat mich dann doch fassungslos gemacht.

Im Endeffekt ist es die gleiche Fassungslosigkeit wie im März. Man kann rückblickend noch über eine falsche Einschätzung des Virus hinwegsehen. Auch hinwegsehen kann man über überschießende Grundrechtseinschränkungen in der Anfangszeit. In Bayern bekam man beispielsweise Probleme werden, wenn man alleine auf einer Bank ein Buch las.

Worüber man jedoch nicht hinwegsehen kann, ist die völlige Unvorbereitetheit und die fehlende Bereitschaft, an den politischen Prozessen auch nur etwas zu ändern. Zudem komme ich nicht über die fehlende Beteiligung des Parlaments hinweg.

Unvorbereitet war man, weil es keine Schutzausrüstung gab, obwohl es Pandemiepläne gab. Ein einzigartiges Versagen von Jens Spahn, das viel zu wenig skandalisiert wird. Denn das Versagen geht ja weiter: Aktuell sterben die Hochbetagten. Das ist die Risikogruppe schlechthin. Während bei Menschen unter 30 das Sterberisiko bei ungefähr 0% liegt, gibt es ein Massaker, wenn das Virus in Alten- oder Pflegeheime eindringt.

Es wurde jedoch nichts dafür getan, diese Einrichtungen besonders zu schützen. Es gibt zu wenig Schutzausrüstung, es gibt keinen ausreichenden Bestand an FFP2-Masken und es gibt keine Schnelltests. Und wenn etwas beschafft wird, zu Preisen, dass einem schwindelig wird. Es wird Geld an Schutzausrüstung und Tests ausgegeben, dass man sich fragt, das wievielfache hätte man davon selbst in Deutschland produzieren können, wenn man das Steuergeld entsprechend eingesetzt hätte. Oder ist die Ingenieursnation etwa nicht fähig, FFP2-Masken in ausreichender Zahl selbst zu produzieren?

Die politische Kommunikation

Die politische Kommunikation ist ein absolutes Chaos. Kein Mensch weiß doch mehr, was denn das eigentliche Ziel ist. Am Anfang war es flatten the curve. Das hat jeder verstanden, auch weil es so eingängig kommuniziert wurde (ein Hoch auf den Lerneffekt der Wissenschaftskommunikation, den wir sicher auch der Klimakrise zu verdanken haben). Wir wollten die Kurve abflachen, damit die Krankenhäuser nicht überlastet sind.

Wenn das aber das Ziel war, fragt man sich schon, warum nicht den ganzen Sommer über alles unternommen wurde, um Kapazitäten in der medizinischen Versorgung zu schaffen. Warum wurde der Pflegeberuf nicht attraktiver gemacht etc? Erst kürzlich habe ich einen Oberbürgermeister in einem Interview sagen hören, dass das das wichtigste sei, worum man sich kümmern müsse. Wenn die Pandemie vorbei sei. Ja, ich bin auch überzeugt, dass das der richtige Zeitpunkt sein wird. Das spricht Bände und steht exemplarisch für die gesamte Politik.

Ich frage mich aber auch, warum man nicht wenigstens versucht hat, auf anderem Wege die Krankenhäuser leer zu halten: Durch Prävention. Das findet weder in der politischen und medialen Kommunikation statt, noch in irgendwelchen Maßnahmen. Damit meine ich jetzt noch nicht einmal, die Massentierhaltung zu beenden und das Entstehen von Zoonosen und multiresistenten Keimen zu verhindern. Das wäre wohl doch etwas viel verlangt von den derzeit regierenden Parteien. Aber wenn wir doch wissen, dass einige Risikofaktoren ernährungsbedingt sind, fragt man sich schon, warum denn dann nicht endlich die Ernährungswende in Gang gesetzt wird, die wir sowieso machen müssen im Hinblick auf die anderen großen Krisen: Die planetaren Grenzen.

Frau Klöckner sagt ja immer, dass sie keine Gesetzesfetischistin sei, die Gesetze um der Gesetze willen mache und auch Verbote lägen ihr nicht (keine Ahnung, warum sie in der Politik ist — also , doch, schon, aber das ist halt ein anderes Thema, das nix mit Ernährung zu tun hat). Hier hätte sie — sogar ohne Gesetze — eine beispiellose Kampagne starten können, um die Menschen fitter zu machen in diesem weltweiten Fitnesscheck, bei dem wir in Deutschland nicht sonderlich gut abschneiden. Gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, Zuversicht, frische Luft, Sonne, Sport — alles, was wichtig ist für ein gesundes Immunsystem und ernährungsbedingte Vorerkrankungen verhindern hilft, spielt keine Rolle. Im Gegenteil wird es durch die Maßnahmen sogar noch verhindert. Dazu sind dann sogar Gesetze und Verordnungen im Tagestakt möglich. Daran sieht man, dass die Politik der Union reine Propaganda ist. Wenigstens etwas.

Man sieht es aber auch daran, wie wir in die nächste Wirtschaftskrise, in die Klimakrise und in weitere Krisen gesteuert werden. Man hat die komplette Wirtschaft und Gesellschaft lahmgelegt. Das kann man ja machen, wenn es denn aus medizinischer Sicht erforderlich ist. Aber wo ist denn die Zukunftsvision, die Langzeitstrategie, die Vorstellung, wo es mit dem Land und seinen Menschen hingehen soll. Ich sehe da weit und breit nichts in der politischen Diskussion, was die Bezeichnung Zukunftsvision verdient. Eine Umstellung der Wirtschaft, Regionalisierung, Ausbau erneuerbarer Energie, eine Agrarreform mit einer Landwende die attraktive Arbeitsplätze schafft, eine Steuerreform, die wieder zurückverteilt, was Jahrzehnte lang nach oben gespült wurde uvm. Davon ist nichts zu sehen. Stattdessen seit Wochen ein Fokus auf Weihnachten. Klar, kommendes Jahr sind ja Bundestagswahlen. Wer will da schon…

Ja, wir haben einen Notstand. Aber ist es wirklich ein Notstand, der durch das Virus verursacht wurde? Oder haben wir nicht vielmehr einen Pflegenotstand und einen Vorstellungsnotstand. Das wäre dann aber ein politisch gewollter. Genug damit.

Irgendwann haben wir dann Inzidenzwerte eingeführt, die damit begründet waren, dass die Gesundheitsämter die Infektionen nachverfolgen können. Meinetwegen. Das soll mir recht sein. Wenn es denn passiert. Leider habe ich dutzende Geschichten gehört, in denen Gesundheitsämter Menschen als Kontaktpersonen 2 eingestuft haben, die dann keinen Test bekamen, nicht in Quarantäne mussten und kurz darauf positiv getestet wurden und teils Symptome entwickelten. Auf der anderen Seite wurden tausende in Quarantäne gesteckt ohne dass dies nötig gewesen wäre. Ich selbst war mir meiner Familie davon betroffen.

Ich war ja von Anfang an ein Freund davon, einheitliche Regelungen für ganz Deutschland auszurufen mit unterschiedlichen Reaktionen je nach Lage vor Ort. Die Coronaampel ist doch auch leicht plausibel zu machen. Aber wenn man dieses Ziel ausruft, dann muss in der Umsetzung halt auch irgend etwas stimmig sein und nicht ein derartiges Chaos. Das war nur 1 Beispiel für eine Vielzahl von dem, was trotz der Möglichkeit der Vorbereitung über den Sommer alles andere als rund läuft.

Jetzt scheinen diese beiden Strategien vollkommen überwunden. Nun will man das Virus am Liebsten ganz ausrotten — ZeroCovid. Auch das soll mir recht sein — wenn wir mal darüber reden, was das für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat bedeutet. Denn so ganz trivial ist das nicht, was dann zu tun wäre. Damit eines klar ist: Ich wäre dafür gewesen, wenn im Oktober ein richtig knackiger lockdown beschlossen worden wäre, der die Zahlen wirklich nach unten gebracht hätte (wenn danach weiter richtig gehandelt worden wäre). Besser als dieses monatelange Szenario, das uns nun bevorsteht. Am Besten hätte man das mit allen Ländern der EU gemeinsam gemacht. Quasi die EU als Insel betrachtet wie Taiwan. Dann wäre sogar ein relativ entspannter innereuropäischer Reiseverkehr möglich. Es ist nicht so einfach, hier alle in Quarantäne zu schicken, die Grenzen übertreten. Viele machen das auch zum Arbeiten. Aber gut, das ist a bisserl utopisch gedacht, wenn sich nicht einmal die Bundesländer in Deutschland auf einheitliche Regelungen einigen können.

Das hatte ich also eh für unrealistisch gehalten. Für mich war aber vollkommen unbegreiflich, wie alles so weiter ging wie bisher. Selbst jetzt beim sogenannten harten Lockdown läuft ja zB das produzierende Gewerbe weiter. Was man da für Stories aus den Umkleide- und Gemeinschaftsräumen hört, lässt einem wirklich alle Haare zu Berge stehen. Wie will man denn so die Zahlen so weit herunterbekommen, dass eine Kontrolle wieder möglich ist? Der 10.1. ist aus der Perspektive vollkommen unrealistisch. Man kann aber die Leute nicht bis in den Mai einsperren. Weder ist das mit unserem Rechtssystem vereinbar, noch ist es nötig und der Sache angemessen und vor allem werden noch mehr Menschen auf die Barrikaden gehen. Vor allem die, die es wirklich hart trifft.

Gerechtigkeit der Maßnahmen

Es wurde bereits in den ersten Wochen der Pandemie klar, als Gelder ausgeschüttet wurden an Konzerne ohne eine Gegenleistung und parallel Dividenden gezahlt wurden an die Eigentümer der Konzerne. Das ist Irre. Von Januar bis Juni 2020 sind in Deutschland 58.000 Millionäre dazu gekommen. Das Vermögen der US-Milliardäre ist in der Pandemie um 1 Billion (!) gewachsen (kein Übersetzungsfehler!).

Jetzt könnte man ja mal drüber reden, wie wir die Kosten der Pandemie verteilen. Macht man aber nicht. Also wenn dann nur kurz. Wenn die Kanzlerin einer Vermögenssteuer zur Finanzierung der Krise ein Absage erteilt. Wir haben hier schließlich einen ordentlichen Kapitalismus. Da wird von unten nach oben verteilt und nicht andersrum. Wäre ja noch schöner!

Auf der anderen Seite sind dann die, die nicht nur nicht von den Maßnahmen profitiert haben, sondern die, die in besonderem Ausmaß unter ihnen leiden. Menschen saßen zu fünft auf fünfzig Quadratmetern mit Ausgangssperre und mussten Kinder in Fächern beschulen, die sie selbst nicht verstanden. Menschen warteten abgeschottet in Pflegeheimen auf ihren Tod, von Tag zu Tag mehr und mehr dement. Jeder kennt diese Beispiele. Wir machen aber genau so weiter. Wir greifen in das Verhalten der Schwächsten ein und sorgen nicht für ein Netz. Ich bin da recht privilegiert, was meine berufliche Situation anbelangt, weil ich mir keine Sorgen um meine Existenz machen muss. Und auch die Wohnverhältnisse könnten schlimmer sein. Und trotzdem sehe ich diese Ängste, Nöte, Probleme und frage mich, warum sie sonst so wenige sehen wollen und sie insbesondere bei der Politik kaum eine Rolle zu spielen scheinen.

Ich habe jetzt nur von Deutschland gesprochen. Dass wir Menschen durch unsere Maßnahmen im dreistelligen Millionenbereich ins Elend stürzen, dass wir noch immer Länder sanktionieren und ihnen den Zugang zu medizinischer Versorgung verwehren, dass wir Menschen in Flüchtlingslagern in Europa verrecken lassen, davon fange ich jetzt gar nicht erst an. Es könnte aber sein, dass sich da bei viel mehr Menschen so ein klitzekleines bisschen rassistische Tendenzen zeigen als bei denen, auf die stets mit dem Finger gezeigt wird.

Unzulänglichkeiten der parlamentarischen Demokratie

Wir brauchen jetzt ganz andere und kreative Lösungen. Man hat ja die Chance verpasst, in Zeiten einer starken Wirtschaft und sprudelnder Steuereinnahmen zu gestalten und auf die großen Krisen unserer Zeit zu reagieren. Im Gegenteil: Union, SPD und FDP haben die Krisen in den letzten Jahren noch drastisch verschlimmert und nun müssen wir bei heraufziehender Wirtschaftskrise auf alles gleichzeitig reagieren. Wir sehen aber, wie die Politik bereits bei einer im Vergleich zu Biodiversitätsverlust und Klimakrise vergleichsweise harmlosen Krise versagt.

Wäre es nach mir gegangen hätten wir schon im Mai Corona-Bürgerräte eingerichtet, die breit beraten, wie wir uns auf den Herbst vorbereiten, welche Maßnahmen zu treffen sind und wie wir aus dieser Krise optimal wieder herauskommen. Diese Bürgerräte wären nicht bloß von Virologen beraten worden. Das Virus zirkuliert ja nicht im luftleeren Raum, sondern in einer Gesellschaft. Da hätte ich vor allem Soziologinnen dazugeholt, aber auch Psychologinnen, progressive Ökonominnen, Kinderanwältinnen, Juristinnen, Migrationsbeauftragte, Pädagoginnen etc. Ich bin sicher, wir hätten weitaus bessere und gerechtere Lösungen gefunden und wären besser vorbereitet in die 2. Welle gestartet. Vor allem aber hätten wir eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung gehabt, wenn die Menschen ihre Ängste und Nöte ernst genommen fühlten.

Ich bin überzeugt, auch der politische Wille dann einen wirklich wirksamen lockdown umzusetzen, der es ermöglicht hätte, die Fallzahlen so weit nach unten zu bringen, dass eine wirkliche Nachverfolgbarkeit wieder gewährleistet wäre, hätte bestanden. In dem Fall wäre es auch leichter gelungen, alte Menschen und Risikogruppen zu schützen und den besonders jungen Menschen ein unbeschwertes Leben mit anderen Kindern und ohne Angst und Maske zu ermöglichen. Für diese Gruppen hätte die Solidarität und die gemeinsame große Anstrengung gelten müssen. Und ich bin sicher, wir hätten ein weitaus besseres Infektionsschutzgesetz erhalten, weil so viele unterschiedliche Perspektiven unter Anleitung von Fachleuten eingeflossen wären. Es wäre ein rundes, gerechtes Gesetz geworden, das viele Ungerechtigkeiten verhindert und wirksame Maßnahmen auf rechtsstaatlichem Fundament eröffnet. Dann — und nur dann — wäre es auch gerechtfertigt gewesen, ein Gesetz mit einer solchen Bedeutung an nur einem einzigen Tag durch Bundestag und Bundesrat zu jagen, vom Bundespräsidenten unterzeichnen zu lassen und noch am selben Tag zu veröffentlichen.

Derzeit werden im Wochentakt (bestenfalls) immer neue Verordnungen verabschiedet, bei denen nicht einmal mehr Juristen hinterherkommen. Veröffentlicht werden Maßnahmen am Nachmittag, die am nächsten Tag dann bereits gelten und die Arbeitgeber dann schon vollständig umgesetzt haben sollen. Ein Verstoß gegen Maßnahmen kann ein Ordnungsgeld mit sich bringen. Früher war es mal so, dass Gesetze für Menschen gemacht wurden. Die mussten auch verstehen, was man von ihnen will. Es darf keine Strafe geben, ohne ein bestimmtes Gesetz. Diese sog. nulla-poena-Grundsätze müsste man eigentlich jetzt erweitern, um den Grundsatz, dass eine Regelung mindestens eine Woche Bestand haben muss. Derartig häufige Änderungen wären ebenfalls nicht nötig gewesen, wenn man sich auf einen breit akzeptierten Maßnahmenkatalog geeinigt hätte, der bei bestimmten Voraussetzungen in Kraft tritt.

Naja, ob das alles richtig ist, werden wir nie erfahren. Wir haben es ja leider nicht einmal versucht. Stattdessen denkt die Politik, sie kann so weiter machen wie bisher. Ich sehe schwarz für die Klimakrise.

2. Medien

Ich frage mich die ganze Zeit schon, wie die Leute ihre Murmeln beinander halten wollen, wenn sie sich nur in alternativen Medien informieren. Das gleiche frage ich mich bei Leuten, die sich nur in Leitmedien informieren.

Ich habe jetzt schon so viel geschrieben. Ich will es daher an dieser Stelle kurz machen. Die Leitmedien haben in meinen Augen in der Pandemie gnadenlos versagt. Es wurden über Monate nur Zahlen wiedergegeben. Ohne irgendeine Einordnung. Es wurden Tote gezählt und Menschen mit einem positiven Testergebnis. Bis heute wissen viele Menschen nicht, dass ein positives Testergebnis alleine noch nichts darüber aussagt, ob jemand krank und infektiös ist. Einfach mal selbst den Test im Bekanntenkreis machen. Die Wissenslücken sind erschütternd. Und das ist auch ein Problem, weil durch eine so verzerrte Berichterstattung viele alternative Medien gesucht haben und dort andere Wahrheiten erfuhren.

Und das ist in der Tat ein Problem. Die Algorithmen der sozialen Medien oder von youtube, die massenhafte Verbreitung von Fehlinformationen über Telegram etc. können wirklich zu einer Radikalisierung führen.

Auf der anderen Seite darf nicht alles, was alternatives Medium ist, verteufelt werden. Ich habe dort weit, weit ausgewogenere Informationen und Einordnungen gefunden, als in den Leitmedien. Teilweise ist es witzig und verängstigend zugleich, wie Informationen und Einordnungen, die man dort erhält, in den Leitmedien erst Wochen oder Monate später ankommen.

Manche stellen sich unter alternativen Medien vielleicht ganz viel Obskures vor. Aber es gibt sehr viel, was in den letzten Jahren entstanden ist und es mit den bisherigen Medien mehr als aufnehmen kann. Es gibt zahlreiche Seiten im Internet wie Telepolis oder die Nachdenkseiten aber auch großartige podcasts zu dem Thema. Dabei seien jetzt nicht nur die podcasts mit Drosten, Cisek und Kekulé genannt, sondern dutzende podcasts, die es alleine um dieses Thema gibt wie Corona im Rechtsstaat oder auch Medienpodcasts, die das Geschehen in den Medien begleiten. Ich schätze den Journalisten Stefan Schulz sehr (früher aufwachen-podcast, jetzt diverse zB Neue Zwanziger mit Wolfgang M. Schmidt oder den Fernsehpodcast). Dort — und das sind nur Beispiele für zig podcasts, die ich höre — gibt es wirklichen Erkenntnisgewinn, weil sich da 2–3 Leute lange und fokussiert über ein Thema austauschen. Im Gegensatz zu Talkshows im öffentlich-rechtlichen, die leider meist wenig Erkenntnisgewinn bringen und dazu auch gar nicht gemacht sind. (weiterer disclaimer: diesseits prinzipiell großer ÖRR-Fan, stöhn)

Es gibt also viele alternative Medien, die man nicht mit spitzen Fingern anfassen muss. Aber auch solche verpönten kann man teilweise nutzen, wenn man dort beispielsweise ein Interview zu sehen bekommt, das man andernorts vergeblich sucht (obwohl es eigentlich zur Hauptsendezeit in den ÖRR gehört). Denn es gilt für alle Medien meines Erachtens die gleiche Grundregel: Sei Dir bewusst, wo Du Dich gerade aufhältst. Das gilt aber auch für alle anderen. Es macht ja einen Unterschied, ob man gerade beim Freitag ist oder der NZZ.

Wenn man sich aber mal hinaustraut und einen breiteren Blick verschafft, klärt das durchaus den Blick auf die Lage. Es ist nun einmal nicht hilfreich, in einer derartigen Situation mit einem Zahlenwust und Bildern Panik zu erzeugen. Wir brauchen einen halbwegs nüchternen Blick auf die Dinge.

3. Gesellschaft

Nüchtern ist der Blick in der Gesellschaft seit März nicht. Vieles von dem, was ich geschrieben habe, mag schon dem ein oder anderen wieder aufgestoßen sein. Vermutlich allein schon, dass ich einen nüchternen Blick fordere. WIR HABEN EINE PANDEMIE AM LAUFEN!!1!! So wäre jetzt ungefähr die Reaktion auf Twitter. Wenn man denn auf einen halbwegs höflichen User trifft.

Nach den ersten Hygienedemos im Mai habe ich geschrieben, dass sich die Gesellschaft in beide Richtungen radikalisiert. Das hatte damals niemand verstanden und ich hatte noch im April gehofft, dass sich die Lage normalisiert, als klar wurde, dass wir es nicht mit dem Killervirus zu tun haben, das wir anfangs befürchtet hatten.

Aber das Gegenteil war der Fall. Die Gesellschaft radikalisiert sich zunehmend bis heute.

Demonstrationen / Kritik an Maßnahmen

Der Zulauf zu den Querdenkendemos ist aus meiner Sicht hausgemacht. Es gab kein Angebot von linker Seite. Man hat es Rechten und rechtsoffen Agierenden überlassen, Menschen die berechtigte Kritik an den Coronamaßnahmen hatten, mit ihren Botschaften zu indoktrinieren. Vielleicht vormals unpolitische Menschen, die gerade in der Anfangszeit noch nicht den Überblick hatten. Und zu Beginn funktionierte ja auch gleich die bekannte Diffamierungskette, die wir aus verschiedenen Bereichen kennen, in denen sich massive Kritik an staatlichem Handeln auftut. Eigentlich wäre Corona DAS Sprungbrett für eine linke soziale Bewegung gewesen.

Es wurden aber ja sogar von Linken Demos von Linken diskreditiert. Ach was heißt „sogar“. Leider wie immer erwartbar. Ich erinnere mich noch an einen Redebeitrag von Andrej Hunko auf einer Demo in Aachen. Ich habe das Redemanuskript gelesen und auch die Hintergründe recherchiert. Es gab an dem Tag drei Demos in Aachen. Eine war etwas schwurblerisch, eine rechts. Er sprach auf einer dritten. Selbst das war schon ein Skandal für andere „Linke“. Sich für Grundrechte und gegen Maßnahmen der Regierung als Linker einzusetzen und dann noch — Achtung — auch in der Rede Bill Gates zu kritisieren bzw. den Umgang mit ihm. Das war zu viel. Weil man als Linker nun nicht mehr Machtstrukturen und den Einfluss von mächtigen Milliardären kritisieren darf.

Ähnlich erging es Bodo Ramelow als er kurz darauf zu rechtsstaatlichen Strukturen zurückkehren wollte. Ja was denn sonst?! Wir hatten zu der Zeit kaum Inzidenzen. Nicht einmal die Demos hatten wie (auch von mir) befürchtet, zu einem Anstieg der Fallzahlen geführt. Zudem traf es den ganzen Sommer über überwiegend jüngere Leute ohne schwere Verläufe. In einer solchen Situation muss man in einem Rechtsstaat vom Ausnahmezustand zurückkehren in einen Normalzustand sobald dies möglich ist. Nichts anderes hat er gefordert. Für das Bundesland eine Rücknahme der Maßnahmen bei gleichzeitiger Beibehaltung oder gar Ausweitung, wenn es in Kommunen oder Kreisen erforderlich ist. Die Zeitungen titelten in der aufgeheizten Stimmung: Ramelow will Maskenpflicht abschaffen.

So könnte man ewig weiter machen. Den Verlauf kennt ja jeder. Nur Querdenken blieb ein Angebot, wenn man öffentlich seine Nöte äußern wollte. Das ist ein grandioses Versagen der Linken, die dadurch erst ermöglicht haben, dass diese rechtsoffene Bewegung dann tatsächlich vollständig von rechts gekapert wurde. Uns steht eine Wirtschaftskrise ins Haus. Der AfD geht es umso besser, je schlechter es Deutschland geht, wie wir gelernt haben. Im kommenden Jahr haben wir Bundestagswahlen. Ich verstehe nicht, wie man so kurzsichtig sein kann. Mir macht das Angst und es wäre mehr möglich gewesen, wenn die Gesellschaft nicht jede Form von Diskursfähigkeit und -bereitschaft über Bord geworfen hätte. Es herrscht ein Umgangston, wie man ihn noch vor Monaten nicht für möglich gehalten hätte. Sogar Fachleute wie Hendrick Streeck werden aufs Übelste diffamiert und bedroht. Man hält nicht einmal mehr eine andere Meinung aus.

Streeck hat im Übrigen stets gefordert, dass insbesondere die Risikogruppen geschützt werden müssen. Das sind die, die jetzt sterben.

Und auf einmal soll’s Solidarität richten

Warum wird denn überhaupt ein derartiges Maßnahmenchaos erforderlich? Naja, weil wir uns eben Merkel ausgesucht haben und damit eine marktkonforme Demokratie. Dann wird natürlich erstmal alles Lebenswerte runtergeregelt, was nicht systemrelevant ist. Wie zB Menschen, Kunst, Freizeit, Kultur etc. und das reicht dann immer noch nicht, weil die Menschen noch immer ihre Freiheit über das Gemeinwohl stellen. Man kann aber doch auch nicht ernsthaft glauben, man könne eine Demokratie marktkonform gestalten und nach jahrzehntelanger neoliberaler Indoktrination, in der nur ICHICHICH zählte, legt man den Schalter auf funktionierende Solidarität um.

Es zählte im Land der Exportweltmeisterei nur der Profit — auf Kosten aller anderen, der europäischen Nachbarn, und auch der Umwelt. Es zählte im Land der Reiseweltmeisterei nur die Stempelkarte der erreichten Reiseziele. Auf Kosten aller anderen, insbesondere der Umwelt. Es zählte die Eigenvorsorge. Wer sich heute Eigenvorsorge leisten kann, wird eine Rente haben. Wer das Glück hat, nicht der gesetzlichen Rentenversicherung unterfallen zu müssen, wird eine Rente haben. Viele werden sogar eine Pension haben und damit mehr „verdienen“ als Millionen Erwerbstätige. Wer es kann, ist nicht gesetzlich krankenversichert, sondern privat und hat damit Zugang zu guten Gesundheitsdienstleistungen.
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Alle — denen es möglich war — konnten sich selbst optimieren, taten das auch und verloren dabei die aus den Augen, die das nicht konnten. Denn die waren ja selbst schuld.

Und ich behaupte jetzt mal kackfrech: Diese Einforderung der Coronamaßnahmen und der Ruf nach noch schärferen Grundrechtseinschränkungen beruht auch auf diesem Mechanismus: es geht nicht um Solidarität. Es geht ums Ich. Wäre es Solidarität, wäre dies eine andere Welt.

Es ist die Angst, selbst krank zu werden, selbst nicht mehr dran zukommen, wenn es um freie Bettenkapazitäten geht. Und genau darum geht es auch bei der…

Impfung

Da wird es nun ganz aktuell völlig irrational. Zunächst einmal, weil ich es auch immer noch für möglich erachte, dass wir das Ganze maßlos überschätzen. Jetzt hör ich schon wieder das Geschrei. Ruhig, Brauner. Ich befolge alle Maßnahmen vermutlich sogar konsequenter als Du!

Auch wenn es schwer fällt, sollten wir nicht zu ungeduldig sein, weil uns eine Beurteilung erst in der Retrospektive möglich sein wird. Bis dies möglich ist, bin ich aber vorsichtig — mit der Beurteilung, aber auch mit meinem Verhalten.

Trotzdem ist es irre, was um dieses Thema herum passiert. Und damit meine ich jetzt nicht die verlorenen Impfgegner. Aber es muss doch berechtigte Kritik geben dürfen und ein kritisches Hinterfragen, ohne in den Bereich esoterischer Impfgegner geschoben zu werden. Meine Familie und ich sind deutlich überimpft von A wie alles bis Z wie Zecke sowieso. Und ich weiß, welche Errungenschaft das ist.

Trotzdem gehen manche Sachen einfach nicht. Man kann sich darüber freuen, dass ein Impfstoff wirkt, aber man muss das als verantwortlicher Politiker nicht gleich aufgrund von Pressemitteilungen von Pharmaunternehmen machen, wie dies der Fall war. Ohne dass klar ist, wie der Impfstoff in der Breite wirkt und ob er sterile Immunität verleiht. Auch auf diesen Hinweis wird man auf Twitter angeschrien. Dabei ist das doch ganz banal.

Der Fehler, der dann aber gemacht wird: Es wird tatsächlich nicht von wenigen eine Impfpflicht gefordert, also nicht nur eine mittelbare, sondern wirklich eine Impfpflicht. Aktuell wird wegen einer provokanten Äußerung eines Mitglieds des Ethikrates diskutiert, ob Nicht-Geimpfte Zugang zu Beatmung haben dürften. Das alles ist irre.

Irre ist auch, dass viele der Leute, die so aggressiv diskutieren, nicht einmal eine Ahnung haben, was sie da diskutieren. Wenn gefordert wird, dass sich alle aus Solidarität impfen lassen müssen, obwohl gar nicht klar ist, ob Geimpfte trotzdem noch ansteckend sind, dann kann man diese Forderung schlichtweg nicht aufstellen. Wenn es um den Schutz der Risikogruppen geht und diese den Impfstoff zuerst bekommen, ist es doch gut. Dann sind die geschützt, denn da scheint der Impfstoff ja sensationell zu wirken. Das ist aber dann eine komplett andere Impfstrategie. Wäre schön, wenn das manche, auch Journalisten, mal trennen könnten. Es wäre uns allen schon viel geholfen, wenn die Risikogruppen nicht mehr in der Zahl sterben müssten. Dann wären wir auch wieder bei flatten the curve — falls das noch einer will. Man weiß ja nichtmal mehr das.

Man muss aber auch akzeptieren, dass Menschen nicht geimpft werden wollen, weil sie selbst ein Sterberisiko von 0% haben und nach aktuellem Stand die Langzeitfolgen noch nicht sicher eingeschätzt werden können. Und man muss auch respektieren, dass Menschen sich erst einmal anschauen wollen, wie ein neuer Impfstoff mit einem neuen Impfverfahren wirkt, der in einem teleskopierten Zulassungsverfahren erprobt wurde.

Da müsst Ihr jetzt nicht gleich schon wieder laut werden. Was soll das Geschrei? Ich finde das ja sogar in höchstem Maße spektakulär, was wir da können. Wie wir Köper dazu bringen können, das zu machen, was wir wollen. Gut auch sehr beängstigend, aber in dieser Anwendung und der noch nie dagewesenen Wirksamkeit spektakulär. Trotzdem kann man das ja kritisch begleiten. Im Übrigen könnte man sich auch hier mal nach der Langzeitstrategie fragen, den Plan B, falls der Impfstoff doch nicht so wirkt, wie erhofft.

Oh jetzt wird’s schon wieder arg laut hier. Lasst uns rausgehen aus dem Impfzentrum. Wir haben es gleich geschafft.

Was mich am Meisten bewegt…

…ist die Gesprächskultur und das vollkommen fehlende Gespür für Zusammenhänge. Es wird immer so getan, als wäre das Pochen auf Grundrechte und die Gewaltenteilung irgendein Spleen. Wenn ich diese Ausführungen, insbesondere zu den Demos mache und Empathie einfordere, wird mir — gerade von linker Seite — entgegen geschleudert: Mit Rechten demonstriert man nicht. Ja klar. Mach ich auch nicht. Das ist mir aber schlicht zu schlicht. Ihr macht es euch etwas einfach wenn ihr dann auf ne Gegendemo geht und stolz ein Foto von Eurem Einsatz gegen rechts postet. Oder halt gegen die, die ihr in Bausch und Bogen als rechts diffamiert. Weil es einfacher ist, als sich mit berechtigter Kritik auseinanderzusetzen.

Darf man an all dem keine Kritik üben, weil sich unser Staatswesen noch in einer vergleichsweise guten Verfassung befindet? Insbesondere wenn man sich die Probleme in den sich immer mehr verbreitenden Autokratien ansieht?

Doch gerade dann, wenn man dieses Gemeinwesen schätzt und erhalten will, muss man Kritik üben. Wer diese berechtigte Kritik verächtlich macht, macht die liberale Demokratie und Demokraten verächtlich und befindet sich weit mehr im Lager derer, die er zu bekämpfen vorgibt. Und er leistet genau diesen Tendenzen ins Autoritäre Vorschub. „Sie“ natürlich auch.

Was mich dabei am meisten erschüttert ist nicht, dass man Maßnahmen vielleicht anders beurteilt. Nein es ist die vollkommene Abwesenheit eines Gespürs dafür, wofür es Grundrechte und die Gewaltenteilung gibt. Das sind Brandmauern, die wir auch aus den Erfahrungen unserer Geschichte eingezogen haben. Eine Demo gegen Rechts ist wie ein einzelner Sandsack, wenn die Flut kommt. Die hält er dann nicht auf. Das kann nur unsere Verfassung, die es zu schützen gilt. Wir haben im kommenden Jahr Wahlen. In so vielen Ländern sind Populisten an die Macht gekommen und haben Demokratien in autoritäre Staaten umgemodelt. Und zuvor haben Demokraten die Rechte ihrer Bürger beschnitten und ein Überwachungsinstrumentarium übergeben. In den USA erfreut sich Trump an den von Obama übergebenen Drohnen und dem entstaubten espionage act. Aber auch in Europa passiert derartiges. Damit meine ich nicht nur Polen, Ungarn, Türkei… Auch unser Nachbarland Frankreich gefällt sich in der zunehmend autoritären Rolle bei teils bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Und Le Pen steht in den Startlöchern. Und ausgerechnet Deutschland soll die Insel der Glückseligen bleiben? Wir haben doch gesehen, dass sowohl FDP als auch die Union nicht davor zurückschrecken würden, sich mit der AfD zu verbünden, wenn es dem Machterhalt dient.

Wir haben im kommenden Jahr Wahlen, Wie kann man nur so kurzsichtig… ach so, habe ich schon…

Die einzige Hoffnung

Die einzige Hoffnung, die ich habe ist die, dass durch die Coronakrise mehr Menschen verstanden haben, wie unzuverlässig die Menschen sind. Einfach weil sie Menschen sind. Man kann natürlich, wenn man ein ganz schlichtes Gemüt ist, die Querdenker als Mörder beschimpfen, die alle Menschen hier auf dem Gewissen haben. Oder man betrachtet mal sein Umfeld und schaut, wie sich die Menschen verhalten. Gerade im Nahbereich waltet kaum Vorsicht. Man kennt sich doch. Was soll da schon passieren? Die Menschen erzählen einem, sie würden genau so kontaktarm leben wie man selbst und man könne sich ruhig mal treffen. Bis man sie damit konfrontiert, dass sie noch vor zwei Minuten erzählt haben, wo sie vorgestern zu Besuch waren, wer heute kommt und wohin man am Wochenende gemeinsam mit Nachbarn fährt.

Mich langweilt eine solch verzerrte Selbstwahrnehmung. Kenn ich halt als Klimaaktivist schon seit Jahren. Alle kaufen bio und der Marktanteil ist bei 10%. Kaum einer isst Fleisch. Kaum einer schmeißt Lebensmittel weg und verpackungsarm kaufen sowieso alle ein. So langweilig. Das Schöne: Viel mehr Menschen erleben jetzt, was ich seit Jahren aus Sicht des Klimaaktivisten sage und was bei anderen immer nur zu Kopfschütteln geführt hat. Diese Verdrängungsmechanismen funktionieren bei jedem. Jetzt werden sie sichtbarer. Hoffentlich folgt etwas daraus. Für alle großen Krisen. Ich habe eine jahrzehntelange Ausbildung zum Misanthropen durchlaufen. Ich glaub nicht mehr dran.

Danke

Wenn Du jetzt bis hierhin durchgehalten hast: Mein Riesenrespekt. Geschrieben habe ich das hauptsächlich für mich und für die aus meinem Umfeld, die etwas besser verstehen wollen, was ich denn damit meine, wenn ich etwas tweete. Das ist natürlich immer nur ein Gedankenfetzen. Wenn ich mit den Leuten rede, verstehen sie es. Da kann man zwar auch mal nachfragen und etwaige Unschärfen in der Argumentation beseitigen, was mit diesem heruntergeschriebenen Text jetzt nicht mehr gelingt. Dafür kann ich jetzt einfach immer nur den Link zu diesem Text posten. Was bin ich froh.

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Jürgen Müller

Written by Jürgen Müller

Realistischer Exrealo, rasender Entschleuniger, politisch Verwahrloster und irgendwas mit Recht. Twitter: @exrealo

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